
Es fängt immer harmlos an. „Komm, Jürgen, das wird gut!“ sagte mein Kumpel.
Und zack, sitze ich auf dem Rad...
Lange ist es her, dass ich eine richtig lange Tour gefahren bin.
Aber jetzt war’s mal wieder so weit. Ich habe mich – nach einigem Zögern – doch überreden lassen, bei einem Brevet mitzufahren. Es war ein eher kurzes Brevet, also ideal zum Wiedereinstieg.
„Brevet“ kommt übrigens aus dem Französischen und bedeutet „Diplom“, „Schein“ oder „Zeugnis“ – und genau so fühlt sich’s manchmal auch an. Es handelt sich um Langstreckenfahrten, die nach dem Reglement des Audax Club Parisien ausgerichtet werden. Die Entfernungen sind: 200 km, 300 km, 400 km, 600 km und 1.000 km.
Für die 200 km hat man genau 13,5 Stunden Zeit.
Für die anderen Pipifax, für mich eine Prüfung...
(zum Ausklang dieser Buchstaben möge der geneigte Leser sich ein dramatisches staccatoartiges Geigenspiel - welches langsam lauter wird - vorstellen...)
"Aus der Tradition heraus sind Brevets Veranstaltungen mit geringstmöglichem Organisationsgrad. Jeder Randonneur verpflegt sich selbst und muß zur Not in der Lage sein, einen Teil oder die Gesamtstrecke alleine zurückzulegen. Ein besonderes Kennzeichen des Randonneurs ist seine Selbständigkeit und die Fähigkeit, auch bei widrigen Umständen durchzuhalten. Das bedeutet jedoch nicht, dass wir als radelnde Egoisten durch die Lande ziehen. Im Gegenteil - es entwickelt sich unterwegs ein großer Zusammenhalt, der bei kommerziellen Großveranstaltungen nicht möglich ist. Besonderer Wert wird auf die Individualität des Fahrers gelegt, jeder wird so akzeptiert wie er ist..."

Organisiert wird dieser Brevet von Heidi und Karl.
Karl ist selber sehr sehr lange Brevets gefahren.
Also trafen wir uns bei Karl.
Startpunkt der Runde: Treuchtlingen. Von dort sollte es Richtung Osten gehen – und nach etwa 100 Kilometern auf einer anderen Strecke wieder zurück.
Start war um 9:00 Uhr in Treuchtlingen, genauer gesagt um 9:30 Uhr.

Unterwegs war ich – wie bei all diesen wilden Radevents – mit Christian.
Start war, wie jedes Jahr, beim Sportheim in Treuchtlingen, und gestartet wurde in mehreren Blöcken. 150 Fahrerinnen und Fahrer nahmen teil.
Da ich mich so spät angemeldet hatte – und außerdem den Wunsch geäußert hatte, mit Christian gemeinsam zu starten – wurden wir in den letzten Startblock eingeteilt.
Das der Start in Gruppen eingeteilt war, kamen wir erst um 09:30 Uhr los.
Gut gelaunt fuhren wir los.

Die Strecke war in vier Abschnitte unterteilt. Und jeder dieser Streckenabschnitte hatte mindestens einen Hammerberg. Insgesamt waren etwas mehr als 2.300 Höhenmeter zu bewältigen.
Der erste Abschnitt war 60 km lang, und nach etwa 40 km merkte ich, dass es mir schon mal besser gegangen war – mein Hintern tat weh und außerdem zwickte mein rechtes Bein ...
Sollte sich da etwa schon ein Krampf ankündigen?

In Kipfenberg – kurz vor dem geografischen Mittelpunkt von Bayern – kam dann der zweite Hammeranstieg. Der war echt steil, aber wir zogen uns nach oben und konnten dann den Mittelpunkt von Bayern feiern.
Und schon bald kamen wir zur ersten Kontrollstation – und nach einem Cappuccino, einer Wurstsemmel und mehreren Gebäckteilchen sah die Welt schon wieder besser aus.
Mittlerweile ging es mir wieder richtig gut, und ich war bereit für die nächsten Kilometer. Und schwuppdiwupp waren wir schon beim ersten Kontrollpunkt.

Viele Randonneure waren schon dort und genossen ihren Kaffee. Wir schlangen etwas zu essen rein und gönnten uns ebenfalls einen Kaffee.
Und dann begann auch schon das zweite Teilstück von insgesamt vieren. Knapp 62 Kilometer waren geschafft, und jetzt warteten nur noch etwas mehr als 40 Kilometer auf uns und schon sollte die Hälfte erledigt sein. Frisch gestärkt und gut gelaunt fuhren wir weiter.
Bald kam ein langer Anstieg, den wir perfekt meisterten – und ich freute mich, denn jetzt sollte ja nichts Größeres mehr kommen. Ich hatte allerdings vergessen, die Karte genauer zu studieren, denn nun kam einer der echten Hammeranstiege. Wir krochen also diesen Berg hoch, und von hinten fuhr ein anderer Randonneur an uns vorbei – langsam, aber stetig.
Letztendlich schafften auch wir den Anstieg, mehr schlecht als recht, und fuhren weiter, um bald den zweiten Checkpoint zu erreichen: einen Edeka.
Juhu, wir hatten die Hälfte geschafft – was sollte uns jetzt noch aufhalten?

Das Tolle beim Radeln über so lange Strecken: Du musst essen – und zwar so viel wie möglich - am besten ununterbrochen.
Wir räumten also die letzten Wurstsemmeln ab und verputzten noch einiges an Süßkram, um dann allmählich wieder loszukommen. Zuvor unterhielten wir uns noch mit ein paar anderen Fahrern. Dabei trafen wir auch den Fahrer wieder, der uns auf dem letzten Anstieg überholt hatte.
Etappe drei hatte folgende Höhepunkte zu bieten:
Sie war nur 40 Kilometer lang – und ein Döner wartete in der Mitte auf uns.
Los gings…
Alles lief super, die Sonne schien, und die Welt war perfekt.
Wir kehrten ein und genossen unseren Döner. Danach ging’s flugs zurück aufs Rad.

Doch dann kam der Anstieg. Unten, auf einer Parkbank, saß unser neuer Freund, den wir grüßten. Über 20 % Steigung freuten sich auf uns und wir kapitulierten schnell. Demütig schoben wir unsere Boliden nach oben ... Diese Steigung funktionierte einfach nicht für uns.
Währenddessen verabschiedete sich meine rechte Socke. Sie löste sich auf und hinterließ eine Blase, die fröhlich vor sich hin blutete.
Gott sei Dank hatte ich noch ein Blasenpflaster in meinem kleinen Däschle – und war gerettet.
Allmählich wurde es bewölkter und kälter. Wir erreichten den letzten Kontrollpunkt: eine schnöde 24-Stunden-Tankstelle. Die Sonne war mittlerweile verschwunden. Zwei weitere Mitstreiter waren ebenfalls dort, machten sich aber bald nach unserer Ankunft wieder auf den Weg.
Jetzt waren es nur noch 60 Kilometer ...
Leider gab es hier nichts wirklich Leckeres. Nun gut – Cappuccino, mehrere Snickers und ein paar Semmeln später wollten wir zur letzten Etappe starten. Da kam unser neuer Freund vom letzten Anstieg zur Tür herein. Er hatte immer wieder mit Krämpfen zu kämpfen. Später stellte sich heraus, dass er Wolfgang hieß und schon viele Brevets gefahren war. Er war ein paar Jahre älter als wir, hatte aber eine Menge Erfahrung in den Beinen.
Wir wollten los – und hatten ein schlechtes Gewissen.
Also zogen wir uns wärmer an und fuhren los. Bald machten wir die Lichter an, denn es wurde allmählich Abend.

Die letzte Etappe stand an.
Knapp über 60 Kilometer, hauptsächlich entlang der Altmühl. Nach ein paarunddreißig Kilometern sollte der letzte heftige Anstieg kommen, danach ging es in hügeliger Form bis zum Ziel.
Der Döner war allmählich verdaut, ich holte meine letzten Riegel- und Snickersbestände hervor und machte mich bereit. Wir fuhren und fuhren – und es wurde dunkel. Die Lampen funzten, und wir strampelten durch die Nacht, immer an der Altmühl entlang. Der Gegenwind legte sich allmählich, und wir fuhren weiter, Kilometer um Kilometer.
Bei einer kurzen Pinkelpause sahen wir plötzlich zwei helle Lichter hinter uns – ein Fahrradlicht und eine Stirnlampe. Es war Wolfgang, der uns eingeholt hatte. Zu dritt fuhren wir weiter, rein nach Eichstätt.
Der letzte große Anstieg begann – und wir keuchten zu dritt um die Wette, bis wir oben waren.
Und Wolfgang?
Trotz seiner Krämpfe fuhr er uns einfach davon ... Nun gut, ich weiß ja, dass ich keine Kletterziege bin.
Dann waren es nur noch 30 Kilometer bis zum Ziel! Ja, das schien machbar. Die Zeit drängte allerdings ein wenig, denn wir sollten die 200 Kilometer in 13 Stunden und 30 Minuten schaffen. Das würde knapp werden!
(Nun setzt dramatische Orchestermusik ein, um die Brisanz und die Gefahr des Nicht-Finishen aufgrund von "zu viel Zeit benötigt" deutlich zu
machen)
Wir hatten keine Ahnung, ob es reicht – aber wir hatten auch keine Wahl.
Ich zählte die Kilometer rückwärts, irgendwann rief ich laut: "Männer, nur noch 22 Kilometer!!!" Eigentlich mehr zu mir, um mir Mut zu machen und mich zu motivieren...
Wir mussten die 200 in 13 Stunden und 30 Minuten schaffen...
Jetzt hieß es nur noch: treten.

22:34 Uhr.
Ortsschild Geislohe.
Nach 13 Stunden und 04 Minuten waren die 200 Kilometer geschafft.
Prüfung bestanden!
Nun waren es noch zehn Kilometer bis zum Ziel – und die sollten die schrecklichsten werden.
Ich kam auf der letzten Rille daher. Es wurde richtig kalt, und ich fror nur noch.
Die letzten Kilometer waren eine Qual.

Aber irgendwann hört auch das längste Brevet auf.
Wir rollten durchs Dunkel, das Sportheim in Sicht – die letzten Meter, die letzten Tritte. Dann waren wir da.
Heidi und Karl und noch ein paar Fahrerinnen und Fahrer saßen beisammen, aßen Suppe und tranken Limo. Genau dasselbe taten wir. Wir holten unsere Urkunde ab und ratschten noch ein wenig.
Dann noch die Räder aufs Auto – und ab nach Hause.
Wow. Das war eine richtig geile Tour!
Ich bin ziemlich froh, dass ich meinen wunderbar verrückten Kumpel habe, der mich immer wieder zu solchen Wahnsinnsdingen überredet – und der mich, obwohl ich auf Dauer sicher nicht ganz einfach bin - immer noch erträgt. Auch wenn ich in meinen Hochphasen manchmal unglaublich peinlich sein kann und in den Tiefphasen eher still werde.
Er ist bei solchen epischen Raddingen meine absolute Lieblingsbegleitung.

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https://www.jansens-pott.de (Donnerstag, 17 April 2025 17:45)
Ich sage es mal so. Bei der Futterei wäre ich ja mit am Start. Zum Rest: Respekt - aber macht mal alleine. :-)
Erik (Donnerstag, 17 April 2025 18:56)
Ich wusste vor deinem Artikel nicht, was ein Brevet ist und habe natürlich auch noch nie an einem teilgenommen. Umso interessanter war es für mich deinen Bericht darüber zu lesen. Ganz zum Schluss wurde es ja noch richtig spannend :)
Gibt es für die Teilnahme eigentlich eine Medaille oder eine Urkunde?
Thomas (Donnerstag, 17 April 2025 19:19)
Respekt. Ich bin auch massig unterwegs und weiss, was 200 km in den Beinen sind – dermaßen viele Höhenmeter habe ich auf einer solchen Runde aber noch nicht drin gehabt!
Jürgen (Donnerstag, 17 April 2025 21:50)
@Tommi: Ich denke mir bei so etwas auch immer: Warum tue ich mir das bloß an?
@Erik: Ja es gibt eine Urkunde und zu Weihnachten kommt die Medaille
@Thomas: Die Höhenmeter ziehen mir aber immer die Stecker raus. Wobei Wind schon auch schwierig sein kann…
Sari (Freitag, 18 April 2025 10:26)
Das liest sich richtig cool. Nur vor den Anstiegen hätte ich ordentlich Respekt, da streiken meine Knie gerne mal.
maipenquynh (Freitag, 18 April 2025 13:38)
Ich schließe mich Erik an und wusste nicht, was ein Brevet ist - jetzt bin ich wieder um ein kleines Stückchen weiser.
Höchsten Respekt von einer, die nur entspannt zum Einkaufen radelt. Nach deiner Aussage, viel Essen in sich reinschaufeln zu dürfen (!), überlegt es sich vielleicht ja jemand mit dem Brevet. Zumindest fand ich das eine gute Werbung :D
Wolf Jäger (Freitag, 18 April 2025 21:24)
Hut ab! Ich erinnere mich daran, das ich voriges Jahr mit meiner 125er Brixton in den Harz zu meinem Bruder gefahren bin, (rund 260km) dann sind wir dort e- Bike gefahren, den nächsten Tag ging es zurück- mit tat 1 Woche der Hintern weh- und das ohne treten zu müssen.... Da stellt sich mir die Frage: wie überlebt man das?
Jürgen (Freitag, 18 April 2025 21:49)
@sari - das mit dem Anstiegen finde ich auch immer doof… ;-)
@mai - ja das Essen macht vieles wieder gut… :-)
@Wolf - Wenn der Hintern weh tut, dann muss man sich einfach wieder drauf setzen… das geht dann nach ner Zeit wieder weg…