365 Frames of Silence - Ein Mann. Eine Kamera. Und das Flüstern der Wirklichkeit


Es begann im April.

Die Sonne schickte ihre ersten warmen Strahlen durch das Fenster, als er da saß – in seinem Versteck aus Staub, Daten und Kaffee. Der Bildschirm flackerte schwach, ein digitales Feuer, in dem er seine Bilder sichtete wie ein Detektiv alte Fallakten.


Doch je mehr er durch die Bilderwelten wanderte, desto lauter wurden die Stimmen. Erinnerungen, verdrängt wie Zeugen in einem ungelösten Fall, drängten sich ins Rampenlicht.


Erinnerungen an das letzte Jahr…

Er erinnerte sich.

Es war Dezember, kurz vor Mitternacht. Draußen peitschte der Wind gegen die Fenster wie ein zorniger Kritiker. In ihm wuchs ein Gedanke, schwer wie Blei und heiß wie ein Patronenhülsen.


Das kommende Jahr ist es wieder so weit… Du willst mehr fotografieren, murmelte er. Und dann kam sie – die Stimme. Nicht seine eigene. Härter. Klarer. Ein Befehl.


„Es gibt nur eine Möglichkeit. Tu es.“


Er atmete tief ein, so als würde er sich in einen neuen Fall stürzen. Keine Zeugen, kein Backup. Nur er, seine Kamera – und 365 Tage, die auf ihn warteten wie eine leere Fallakte.


„Ich mach das wieder. 

Jeden verdammten Tag ein Bild. 

Ein Daily Projekt

2025. 

Start: Neujahr. Keine Ausreden.“


Und so begann es. Kein Applaus. Kein Scheinwerferlicht. Nur er und seine innere Stimme.


 

Er war auf der Jagd.

 

Jeden Tag, mit scharfem Blick und geschultertem Apparat, zog er los – über Straßen durch einsame Gänge und Gassen, über Felder, zwischen Beton und Nebel. Immer auf der Suche nach dem Bild, dem einen Motiv, das sich ihm offenbarte wie ein geheimer Code.

 

Kreativität war kein Spiel. Sie war ein verdammtes Mysterium.

Ein Phantom, das sich nicht zwingen ließ.

Ein Rätsel mit flüchtigen Lösungen.

 

Aber manchmal, ja manchmal… da geschah es.

Ein Lichtstrahl fiel genau richtig. Ein Schatten tanzte. Ein Moment stand still.

Und dann kam sie – diese Idee, diese Eingebung –

wie ein zahmer, wunderschöner Vogel, der sich auf seine Schulter setzte, ohne dass er ihn rief.

 

Er wagte kaum zu atmen, wenn sie kam.

Denn er wusste: Sobald du versuchst, sie festzuhalten, fliegt sie davon.

 

 

 

 


Aber er bekam mehr.

Nicht nur die leichten, leuchtenden Tage. Nicht nur Sonnenuntergänge, Spiegelungen und Zufälle, die sich wie von selbst ins perfekte Bild fügten.


Nein. Er wollte auch die andere Seite.

Die dunkle Seite der Kreativität.


Die, die nichts gibt.

Die, die dich mitten in der Nacht aufwachen lässt, weil du nichts gefunden hast.

Die, die sich verhöhnt in deinem Kopf wiederholt: „Heute hast du nichts gesehen. Heute bist du leer.“


Diese Seite war gnadenlos. Kein Funke, kein Lichtstrahl, keine rettende Idee.

Nur Leere. Grauer, trockener Staub in einer Wüste aus Pixeln.


Und doch…

genau das war es, was ihn wachsen ließ.

Diese Tage, die ihn in den Wahnsinn trieben, ließen ihn tiefer blicken.

Zwischen Frust und Stille lernte er, zu sehen – wirklich zu sehen.


Er hasste sie.

Und gleichzeitig wusste er:

Er brauchte sie.


Denn erst die Leere, das Vakuum, der Druck – sie brannten ihm die Wahrheit ein:

Kreativität ist kein Geschenk.

Sie ist ein Kampf.

Und nur wer auch in der Dunkelheit den Auslöser drückt, verdient das Licht.


Im Rückblick war es klar:

Gerade diese verhasste Dunkelheit hatte ihn weitergebracht.

Sie war kein Feind.

Sie war der Lehrer, den er nie wollte – aber genau der, den er brauchte.


Demütig.

Das war das einzige Wort, das seine Stimmung traf.

Er saß da, umgeben von digitalen Fragmenten, und betrachtete die Bilder der letzten Monate wie ein Chronist, der seine eigene Geschichte zum ersten Mal liest.

Und ja – er musste es sich selbst eingestehen: Die Fotos waren… eigentlich ganz in Ordnung.

Kein Feuerwerk. Kein Meisterwerk nach jedem Klick. Aber ehrlich. Echt. Und manchmal – ganz selten – sogar verdammt gut.

Wenn ihn jemand gefragt hätte, warum er sich das antat… Warum dieses tägliche Ringen mit Licht, Form und Bedeutung… Er hätte nur gelächelt. Ein schiefes, müdes, aber echtes Lächeln.

Ich kann’s dir nicht sagen. Es gibt so viele Gründe… und keinen einzigen, der wirklich zählt.“

Denn es machte keinen Sinn. Nicht in einer Welt, die nach Effizienz schreit, nach Likes und lauter Rechthaberei. Sein Tun war zwecklos. Und genau das machte es so wertvoll.

Keiner würde dieses Gefühl verstehen…Dieses leise, euphorische Kribbeln, wenn man ein Objekt gefunden hat – nicht spektakulär, nicht laut – aber still und voller Würde.

Und wenn er dann, ganz am Ende eines Tages, das Bild in Ruhe betrachtete… und spürte:

Ja. Dieses hier. Das bin ich heute.

Dann war da ein Moment der Ruhe. Ein Atemzug, der zählte. Ein Tag, der nicht verloren war.


     


Er war ein einsamer Wolf. Keine Meute, keine Komplizen – nur er, seine Kamera und diese eine, schlichte Mission:

„Egal was passiert – mach Bilder.“

Und genau das tat er. Mit stoischer Entschlossenheit. Mit der Kälte eines Auftragsmörders und der Sehnsucht eines Künstlers.

Unterwegs und auf Reisen war es einfach – neue Orte, neue Gesichter, frisches Licht. Der Blick war wach, das Herz offen. Aber im Alltag… da wurde es zäh.

Der Alltag war sein Endgegner.

Routine, graue Wände, leere Supermärkte und die immer gleichen Feldwege.Ein Ort, an dem Inspiration stirbt, wenn man nicht kämpft.

Doch er hielt durch. Vier MonateVier verdammte Monate, Tag für Tag, Bild für Bild. Manche davon waren leise. Manche stark. Und manche einfach nur da.

Irgendwann hatte er aufgehört, die Bilder auf Instagram hochzuladen. Nicht aus Trotz. Nicht aus Eitelkeit. Sondern weil es nicht darum ging.

Es ging nie um Likes oder Applaus. Es ging um den Blick. Den Moment. Den Dialog zwischen Licht und Schatten.

Der geneigte Leser mag sich nun fragen:

Wohin führt dieser Weg?

Was kommt da noch?

Auch er selbst würde nie die Gewissheit darüber erlangen… Wohin und warum waren Fragen, die andere vielleicht beantworten könnten, er jedoch nicht. Vor ihm lag das dunkle gefährliche und ungeklärte Ungewisse.

Und vielleicht war genau das das Schöne daran. Denn manchmal ist es die Ungewissheit, die einen weitermachen lässt.

Die Reise war noch nicht vorbei. Und er war bereit für alles, was noch kam.


Es war kein Projekt. Es war ein Schwur.

Eine stille Rebellion gegen die Belanglosigkeit des Alltags.

Er hatte vier Monate überlebt – nicht, weil es leicht war, sondern weil er es musste.

Weil etwas in ihm flüsterte: „Schau hin. Immer. Auch wenn du nichts siehst.“


Jeder Tag ein Bild.

Jedes Bild ein Splitter seiner selbst.Ein stummes Tagebuch ohne Worte, aber mit all den Dingen,die zwischen den Zeilen brennen.

Niemand fragte mehr nach seinen Bildern. Und das war gut so. Denn das hier war nicht für die Welt da draußen.

Das war für ihn.

Und während der nächste Monat anklopfte und die Tage länger wurden, legte er seine Hand auf die Kamera – seine Waffe. 

Sein Werkzeug.

Seine Wahrheit.

Die Reise sollte weiter gehen. Ungewiss. Ungefiltert. Unaufhaltsam.



Anmerkung des Autors:

Nun jedoch erst mal ohne digitales Zeugs sondern rein analog…

Bis das nächste Material kommt dauert es also etwas…


Weitere Anmerkung des Autors:

Spaß!!! 

Nicht das mit dem analogen Zeugs, aber mit der düsteren Stimmung…

Ich wollte auch einfach mal dramatisch und düster sein.

😉





 

 


Kommentar schreiben

Kommentare: 6
  • #1

    erik@blogissimo.de (Samstag, 26 April 2025 23:18)

    Die Kälte eines Auftragsmörders �

    Schöne Geschichte und tolle Fotos �

  • #2

    Jürgen (Sonntag, 27 April 2025 02:51)

    Vielen Dank, lieber Erik.

  • #3

    maipenquynh (Sonntag, 27 April 2025 17:20)

    Also für einen Spaß ist der düstere und dramatische Ton sehr ehrlich rübergekommen. Ich habe den Text gerne gelesen und auch wenn du und ich jeder für sich dieses Fotoprojekt angeht, so ist man irgendwie gemeinsam alleine und das ist tröstlich. An einigen Stellen konnte ich sehr nachfühlen, was es bedeutet, dieses Projekt zu leben.
    Im Rückblick, wie ich den Text nochmal durchgehe, hätte ich womöglich den Spaß herauslesen können (beim ersten Mal musste ich schon schmunzeln): "Denn er wusste: Sobald du versuchst, sie festzuhalten, fliegt sie davon." und dann kommt das Foto vom Lama - herrlich!
    Dir weiterhin viel Spaß und Kampfgeist auf dieser Reise!

  • #4

    Jürgen (Sonntag, 27 April 2025 19:32)

    Liebe Mai,

    herzlichen Dank für deinen Beitrag.
    Gemeinsam alleine ist treffend.
    Aber es macht echt Laune.
    Liebe Grüße Jürgen

  • #5

    Werner (Montag, 28 April 2025 12:49)

    Ein stilles Lächeln hat mich beim Lesen deiner Worte begleitet. - Und freue mich über Fotos von dir, denn ich mag deine "Sicht der Dinge oder "auf die Dinge" sehr. Ob das nun im Rahmen eines Projektes erfolgt oder whatever.
    Keep on shooting.
    Liebe Grüße,
    Werner

  • #6

    Jürgen (Montag, 28 April 2025 17:41)

    Lieber Werner,
    vielen Dank für deine Worte.
    Es ist schön, einfach nur zu shooten...
    Und es geht weiter.

    Liebe Grüße
    Jürgen